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Das Leben steckt voller Möglichkeiten, vor allem wenn es aus einer zwischenmenschlichen Perspektive gesehen wird. Jede Situation besitzt das Potential, Ausgangssituation und Anlass einer ganz neuen Entwicklung oder Geschichte zu sein. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn man einen neuen Menschen kennen lernt. Es entstehen Fragen: Wie ist er mir gesonnen? Wird er mein Feind oder mein Freund werden, erwächst Interesse oder Gleichgültigkeit, entsteht so etwas wie Liebe auf den ersten Blick oder Abneigung auf den ersten Blick? Wie soll ich mein Verhalten ausrichten? Solche Fragen bleiben meistens im Unterbewusstsein stecken. Nur selten werden sie aufgegriffen und bewusst bearbeitet. Die Suche nach einer Antwort auf solche Fragen ist aufwändig. Die Antwort kann weder die Wissenschaft noch ein Fachmann geben. In gewissen Lebenssituationen gewinnen solche existentiellen Fragen eine besondere Dringlichkeit. Dann z. B. wenn es darum geht, das Kennenlernen von Menschen schnell zu bewältigen. Es fehlt in den meisten Fällen die Zeit und die Möglichkeit, einen Menschen gründlich, d.h. auf "natürlichem" Weg kennen zu lernen. Dazu würde gehören: die Sinneseindrücke, die er verursacht, wahrzunehmen, zu ordnen und zu bewerten. Dazu würde auch gehören, gegenseitig so weit in die Lebensgeschichten und in die Charaktere einzudringen, dass schließlich je ein persönliches und ein gemeinsames Urteil zustande käme, welches die zukünftige Form der Kommunikation und der Zusammenarbeit regelt. Dies ist in den seltensten Fällen möglich. Doch die kulturelle Tradition hält für solche Fälle Verhaltensmuster bereit. In einer festgelegten Zeichenhandlung werden die Werte vermittelt und in Szene gesetzt, die im jeweiligen Kulturkreis für das Gelingen eines guten Starts von Beziehung als notwenig erachtet werden. In unserem Kulturkreis sind dies die Bereitschaft, Aufmerksamkeit und Achtung zu schenken, sich an den Händen berühren zu lassen und zu berühren, miteinander wohlwollend zu reden.

An diesem Beispiel wird deutlich: Es gibt Handlungen, deren ausschließliches Ziel es ist, Antworten auf existentielle Lebensfragen herbei zu führen. Solche Handlungen verfolgen nicht unmittelbar funktionale Zwecke, Befriedigung biologischer Bedürfnisse oder physische Veränderungen. Auch geht es nicht unmittelbar um die Befriedigung psychischer, sozialer oder emotional-informativer Bedürfnisse, z. B. ein freundschaftliches Gespräch zu führen oder sich über einen Sachverhalt zu informieren. Es geht vielmehr darum, innere Haltungen zu bestimmen und Werturteile und Wertehierarchien aufzubauen, die Handlungssicherheit geben und die Handlungsmotivation bestimmen. Solche Handlungen mit dem Ziel, Antworten auf existentielle Fragen herbeizuführen, sind Riten. Die in der Sprache der Riten produzierte Kommuniaktion vermittelt sich über alle sinnenhaften Wahrnehmungsformen. Riten folgen einer bestimmten Syntax und sind stilisiert. Sie sind teilweise genetisch festgelegt, werden aber auch imitiert und kultisch und kulturell rezipiert und weiterentwickelt.

Es gibt sehr verschiedene Ursprünge der Riten. Manche von ihnen weisen Elemente auf, die von der Verhaltensbiologie im Tierreich beobachtet werden. Andere beruhen auf Verhaltensmuster, die sich erst im menschlichen Zusammenleben entwickelt haben. Allen Riten gehen auf ursprüngliche Handlungsmuster zurück. Sie bilden den Kern der Riten, der erweitert werden kann. Dieser Handlungskern entstammt Handlungen, die der Befriedigung ganz ursprünglicher Bedürfnisse dienen: Mahlhandlungen, Erntehandlungen, Jagd- und Schlachtungsszenen, Partnerwerbung und Heilungshandlungen wie Salbung und Handauflegung. Verbunden mit dieser natürlichen Ursprünglichkeit der rituellen Handlungen ist eine natürliche Religiosität, die dem Ritus anhaftet. Die Ursprünglichkeit der Handlungen, ihre natürliche Notwendigkeit und ihre Unveränderbarkeit verdeutlichen gleichzeitig ihre Heiligkeit, ggf. ihren göttlichen Ursprung. Rituale gelten als heilig, weil derartige Handlungen dem Menschen um des Überlebens willen von einer unverfügbaren Macht geschenkt wurden. Ein Ritus wir überliefert, er entwickelt sich und kommt von außen auf die Menschen zu. Riten verlieren einen großen Teil ihrer Bedeutung und ihrer Autorität, wenn sie allgemein als Menschenwerk betrachtet werden, d.h. wenn sie zum Gegenstand willkürlicher Gestaltung werden. Die natürliche Religiosität des Ritus korrespondiert mit dem menschlichen Bedürfnis, sich mit einer Schicksalsmacht oder Gottheit in Beziehung setzen zu können. Diese Beziehungserfahrung bildet die Grundlage der Theologie oder Theosophie und liegt diesen, als Erklärungswissenschaften oder Erklärungsmodellen logisch und chronologisch voraus. Von daher wird auch klar, dass Ritus und rituelles Verhalten Erkenntnisquellen religiös-theologischer, philosophischer und anthropologischer Reflexionen sind.

Ein Ritus wird immer interpersonal, d.h. von mindestens zwei Personen vollzogen. Damit ist der Ritus als dialogisches Geschehen, als sinnproduktives Beziehungshandeln, als kommunikatives Handel zu bezeichnen. Es kann aber durchaus sein, dass das Gegenüber, der Dialogpartner im Ritus, eine Gottheit ist, die als Person angesprochen wird. Diese kann sowohl von Menschen als auch von Gegenständen (Fetisch, Symbol) dargestellt werden und handeln und Botschaften vermittelt. Auch kann die Natur oder die ganze Umwelt und die Gesellschaft Dialogpartner in einem Ritus sein, die zu mir der Gestalt einer Zeitung oder Nachrichtensendung spricht und meine Beziehung zur Umwelt neu ordnet.

In jedem Ritus vermittelt sich ein Beziehungsgefüge, das sowohl zwischenmenschlicher als auch kosmischer Art sein kann. Riten beschreiben und steuern gesellschaftliche Beziehungen, sie definieren was heilig und verwerflich ist, was positiv und was negativ ist, wo verlässliche Werte zu finden sind. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Wertebewusstsein und wertebezogenes Handeln bevorzug in Riten dargestellt und vermittelt werden.

Innerhalb dieser anthropologischen Grundkonstitution weisen Riten eine kaum fassbare Variabilität auf. Sie können an bestimmte Räumlichkeiten (Tempel, Kulturstätten) oder Personen (Priester, Schamanen, Medizinmänner) gebunden oder aber frei, allgemein und von jedermann vollziehbar sein, wie z.B. der Begrüßungsritus bei einer Feier, der mit einem Glas Sekt gestaltet wird.

Zeitlich gesehen treten Riten dann auf, wenn existentieller Handlungszwang besteht, bzw. wenn Antworten auf existentielle Lebensfragen gebraucht werden. Dies ist, auf den Tag betrachtet, Morgens der Fall: Was erwartet mich heute wohl, wie gehe ich es an? Deshalb wird der Tag gerne mit einem Morgenritual begonnen, das sowohl in Morgengebet als auch im Griff zur Zeitung oder Einschaltknopf des Radios oder Fernsehers besteht. Ebenso besteht dieser Bedarf am Abend. Was war heute? Mit welchem Eindruck und welchen Schlussfolgerungen resümiere ich diesen Tag? Deshalb wird ein Ritus des Tagesabschlusses gerne in ähnlicher Weise wie der des Tagesbeginns vollzogen.

Im Blick auf die Woche ist der wöchentliche Ruhetag, in der westeuropäischen Kultur der Sonntag, für die Klärung existentieller Lebensfragen prädestiniert und geschützt. Deshalb empfehlen, bzw. verlangen die christlichen Kirchen den sonntäglichen Kirchgang.

Auf das Jahr hin gesehen stellt sich zu Beginn und zum Ende des Jahres das Bedürfnis zur Reflexion ein, im Sonnenjahr ebenso zu den Sonnenwendtagen. Aus anderen Kulturen sind weitere ähnliche Tage überliefert, so z.B. die Walpurgisnacht und genau sechs Monate später Halloween. Folglich werden zu diesen Tage Riten begangen, die Werte vergegenwärtigen, die zu der jeweiligen Jahreszeit für die Lebensgestaltung hilfreich sein können.

Auch im Lauf des menschlichen Lebens ergeben sich Phasen, die naturgegeben sich als Umbruchphasen darstellen, weil sich dringliche existentielle Fragen ergeben. In der Kulturanthropologie werden solche Phasen als Übergänge beschrieben und an diesen werden in allen Kulturen besonders geprägte Riten - Rites de passage - begangen. Solche Übergänge sind finden sich beim Lebenseintritt und am Lebensende, beim Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter, beim Eintritt in eine Lebensgemeinschaft, beim Antritt eines besonderen Amtes oder einer Funktion.

Weiterhin lassen sich Regelmäßigkeiten feststellen, in denen das Bedürfnis nach Riten groß ist. Ausgehend von ihrer Funktion, Antworten auf dringliche existentielle Fragen herbei zu führen, wird die auch leicht verständlich. So wächst das menschliche Bedürfnis nach Riten zu Zeiten, die als Krise bezeichnet werden können. Als ganz einfaches Beispiel lässt sich hier die Anzahl der Besucher liturgischer und religiös-spiritueller Handlungen zu Zeiten von Kriegen oder Naturkatastrophen anführen. Auch lässt sich beobachten, dass die Anzahl der Riten in Gesellschaftsformen, die starken ideologischen Einfluss auf ihrer Mitglieder ausüben (Sekten, fundamentalistische und radikale Parteien und Staatsformen, Glaubensgemeinschaften) größer ist als in liberalen Gesellschaften. Dies ist deshalb so, weil die Bewahrung der eigenen Identität in einem anders gearteten Umfeld oder der Aufbau einer Ideologie, die vielen Vernunftseinsichten widerspricht, viele existentielle Fragen verursacht.

Der Form und Gestaltung nach weisen Riten typische Merkmale aus, die Handlungen als Riten erkennen lassen. Rituelle Handlungen sind stilisierte Handlungen, die sich alle als ursprünglich ausweisen lassen. Dabei kann die Ursprünglichkeit in Bereiche hinein reichen, wo die Verhaltensmuster nicht mehr von der Tradition überliefert und lernbar sind, sondern als genetisch bedingte Verhaltensmuster bezeichnet werden. Dies schließt aber keineswegs aus, dass solche ursprünglich der genetischen Determination verdankten Verhaltensmuster von kulturellen Einflüssen weiterentwickelt wurden, z. b. wenn, um die Brautwerbung zu regeln, bestimmte Trachten Aufschluss drüber geben, ob ein junger Mann oder eine junge Frau verheiratet ist oder nicht. Dies weist durchaus Parallelen auf und kann in ursprünglicher Beziehung stehen mit dem Balzverhalten von Tieren, wo entsprechende Signale ebenfalls gegeben werden.

Riten werden dringend notwendig, wenn Konflikte entstehen, die ihrerseits Lösungen verlangen, die von Menschen aus innerem Antrieb realisiert werden. Denn Riten können auch gezielt eingesetzt werden zur Herstellung bestimmter psychisch-emotionaler Zustände wie Agressivität oder Friedfertigkeit, Zusammengehörigkeitsgefühl und Stärkung der Identität und zur Heilung.

Ritus ist ein äußerst vielgestaltiges Phänomen, das nur schwer in seiner Komplexität erfaßt wird und deshalb dazu neigt, auf Einzelaspekte reduziert zu werden. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn Ritus ausschließlich als genetisch determiniertes, stereotypes Verhalten begriffen wird. Andrerseits entspricht es nicht dem ursprünglichen Begriff des Ritus, wenn willkürlich gestaltete Handlungsfolgen, z. B. Shows, als Riten bezeichnet werden. Riten werden immer, zumindest in ihrem Kern, überliefert und sind nicht willkürlich komponierbar. Rituelles Verhalten ist inzwischen Forschungsgegenstand vieler Wissenschaften, so der Soziologie, der Psychologie, der Verhaltensbiologie, der Anthropologie. Wenn das partielle Interesse der Einzeldisziplinen mit einem universalen Erklärungsanspruch verbunden wird, der aber gerechtfertigter Weise nur einem interdisziplinären und zweckfreien Zugang zukommen kann, entstehen reduktive Begriffe von Riten: Solche reduktiven Zugänge sind festzustellen, wenn Ritus verstanden wird als:

  • willkürliche, durch Willensentscheid festgelegte Zeichensysteme.
  • Verhaltensbiologisch determiniertes, stereotypes Verhalten
  • Zu bestimmtem, pädagogischen Zwecken ausgedachte Handlungen zur Dramatisierung abstrakter Inhalte
  • Durch göttliche Setzung einmalig und unveränderlich festgelegte Handlungen.

Natur und Kultur verflechten sich im Ritus. Die christliche Theologie war sich von ihren antiken Anfängen an bewusst, dass der Ritus sowohl ihre Erkenntnisquelle als auch ihr Forschungsgegenstand ist (lex celebrandi lex credendi). Theologie wurde vielfach als Mystagogie verstanden, d. h. als Deutung ritueller Vorgänge wie beispielsweise der Taufe. Diese Art der Theologie weist Parallelen auf zur alegorische Schriftauslegung. Diese begreift die Bibel, die heilige Schrift, als symbolische Sprache, die sich gleichzeitig auf mehreren Ebenen deuten läßt, d. h. die mit einer Aussage gleichzeitig mehrere Inhalte vermittelt. Die Kulturanthropologie hat sich, veranlasst durch die Erfahrungen der Kolonialzeit, im 19. und 20. Jhd. dem Ritus zugewandt und ihn systematisch erforscht. Die sozialwissenschaftliche Forschung kam Mitte des letzten Jahrhunderts hinzu, seit C. G. Jung wendet sich auch die Psychologie dem Ritus zu.

Christliche Riten sind bereits biblisch bezeugt. Der zentrale und wichtigste Ritus ist das "Brotbrechen", d.h. die dem jüdischen Pesachmahl entstammende Geste, die durch Jesus beim "letzten Abendmahl" eine neue Bedeutung erhielt. Sie wurde zum Gedächtnis und zur Aktualisierung der Erlösungstat von Jesus Christus: Sein Sühnetod und seine Auferstehung werden bei der rituellen Feier des Gedächtnismahles in ihrer Wirkung gegenwärtig.

Von diesem und anderen Ereignissen aus dem Leben Jesu leitet die christliche Theologie den ihr von Jesus Christus zukommenden Auftrag ab, die Liebe Gottes zu den Menschen, wie sie in Jesus Christus deutlich wurde, in konkreten Lebenssituationen zu verdeutlichen. Aus diesem Bewußtsein entstanden neue Riten, bzw. wurden bereits in anderen Religionen bestehende Riten mit neuen Bedeutungen versehen, z. B. die Taufe, Ehe, Salbung bei Kranken und als Zeichen göttlicher Begabung verbunden mit Handauflegung bei Weihe und Eintritt in das Erwachsenenalter. Insofern diese Riten, zumindest dem Ansatz nach, biblisch bezeugt sind und allgemeinen Charakter haben, werden diese in der katholischen Kirche als Sakramente bezeichnet, davon gibt es sieben. Darüber hinaus gibt es weitere, regional Begrenzte Segnungsriten. Sie verdeutlichen, dass auch die alltäglichen Gegenstände Mittel sind, um dem Auftrag Jesu entsprechend Heil und Gutes bewirkend zu leben.

Der Funktion der Riten entsprechend, Göttliches zu bewirken, hat die Theologie verschiedene Wirkungsmodelle entwickelt. So wirken die Riten, die allgemein sind und vom Glauben aller Katholiken einheitlich getragen sind, "ex opere operatum", d.h. aus der Kraft des Ritus selbst. Andere, regionale und gestaltbare Riten hingegen wirken "ex opere operantis", d.h. aus ihrer von Gestaltung und Gestaltern abhängigen Wirkungskraft.